Unwissenschaftlicher Alarmismus

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Das Verständnis über wissenschaftliche Zusammenhänge nimmt in deutschen Redaktionen kontinuierlich ab. Nirgends wird das so deutlich wie bei der populistischen PR von Ökotest, die viele Redaktionen permanent unreflektiert weiterverbreiten.

„Journalismus muss Bescheid wissen. Journalisten müssen sich mit den Themen, über die sie berichten auskennen“, betonte Antje Sirleschtov, Herausgeberin von Table Media, vor kurzem auf einer Podiumsdiskussion in Berlin.

 

Die große Mehrheit der Medienschaffenden, mit denen ich regelmäßig in Kontakt bin, hat genau diesen Anspruch. Sie wollen sicher sein in ihren Themen, wirklich verstehen, über was sie schreiben. Es gibt jedoch einen Bereich im Journalismus, in dem das in besorgniserregendem Maße nicht mehr zu gelten scheint – nämlich dann, wenn es um Themen geht, die zumindest ein grundlegendes Verständnis naturwissenschaftlicher Zusammenhänge erfordern.
Keine Form des Journalismus ist in den vergangenen zehn, 15 Jahren aufgrund von Sparzwängen so unter Druck geraten, wie der Wissenschaftsjournalismus. Kaum ein deutsches Leitmedium, das seine Ressourcen für Wissenschaftsjournalismus nicht reduziert hat. Die Süddeutsche stellte ihr Magazin „SZ Wissen“ ein, Regionalzeitungen wie die Stuttgarter Zeitung, die Berliner Zeitung und andere haben schon seit Jahren kein Wissenschaftsressort mehr. Auch das ZDF legte Wissenschaftsredaktionen zusammen. Vor zehn Jahren schon beklagte der Bundesverband der Wissenschaftsjournalisten in einem offenen Brief die „Erosion gehaltvoller Wissenschaftsberichterstattung in der ARD“.

 

Die Folge ist, dass viele wissenschaftlich angehauchte Themen heute in Ressorts laufen, die Namen tragen wie „Wirtschaft“, „Politik“, „Gesellschaft“ oder noch schlimmer „Unterhaltung“. Für ein Unternehmen wie Bayer, dessen Wurzeln und tägliche Arbeit mit nichts anderem so stark verbunden sind, wie mit Wissenschaft, ist dies ein großes Problem. Warum? Lassen Sie es mich an einem prominenten Beispiel beschreiben:

 

Seit Langem warnt die Zeitschrift Ökotest mehrmals im Jahr vor vermeintlich giftigen Pflanzenschutzmitteln in zahllosen Alltagsprodukten, meist Lebensmitteln - in Apfelsaft, Aufbackbrötchen, Berlinern, Fencheltee, schwarzem Tee, Rosinen, Paprikapulver und vielem mehr. Überall stecken Gifte drin, überall ist Alarm angesagt. Vor wenigen Wochen war mal wieder Früchtemüsli dran – und wie in jedem anderen Fall gaben viele deutsche Leitmedien die Botschaften von Ökotest eins zu eins und unreflektiert wieder.

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Moderne Analysemethoden identifizieren zwei Roggenkörner in einem Zug voller Weizen, der um den gesamten Globus reicht.

 

Ein Millionstel eines Milliardstels eines Millionstels

 

Das Geschäftsmodell ist simpel: Moderne Analysemethoden machen es heute möglich, Spurenstoffe in verschwindend geringen Mengen nachzuweisen – im Bereich von parts per quadrillion (ppq), also einem Millionstel eines Milliardstels eines Millionstels. Um es anschaulich zu machen: Analytiker könnten heute in einem Güterzug voller Weizen, der einmal um den Äquator reicht, zwei Körner Roggen nachweisen.

 

Relevant sind diese Funde in den meisten Fällen nicht. Solange die gesetzlichen Grenzwerte nicht überschritten werden, besteht kein Risiko – selbst nicht für Schwangere oder Säuglinge. Diese Grenzwerte beruhen auf toxikologischen Studien an Tieren und beinhalten bereits große Sicherheitszuschläge, meist um den Faktor 100.

 

Weil selbst Ökotest wohl langsam merkt, wie dünn die eigene Faktenlage ist, warnt die Redaktion, ähnlich wie viele einschlägige Aktivistengruppen, mittlerweile lieber vor „Mehrfachbelastungen“ – mit „bis zu 17 Pestiziden“. Konkrete Mengen oder Namen verschweigt die Redaktion gerne, stattdessen verweist sie auf eine Liste des Pestizid-Aktions-Netzwerks (PAN) – ein Zusammenschluss von NGOs ohne wissenschaftliche Legitimation.

 

Bislang allerdings gibt es keine seriösen wissenschaftlichen Hinweise, dass eine Kombination minimaler Spuren von Pflanzenschutzmitteln gefährlich wären – selbst nicht für besonders empfindliche Gruppen.

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Kartoffeln mit Petersilie: Potentiell giftig.

 

Viele natürliche Stoffe sind potentiell giftig

 

Ein Blick in unseren Alltag zeigt zudem, wie absurd die Debatte geführt wird. Nehmen wir zum Beispiel Petersilienkartoffeln: Ein Gericht besteht üblicherweise aus etwa 125 g Kartoffeln und einem halben Bund Petersilie (35 g). Kartoffeln enthalten bis zu 10 mg/g Solanin – eine natürliche chemische Substanz, die die Pflanze zum Schutz vor Insekten bildet. Macht also ungefähr 1,25 g in einem Gericht. Schälen reduziert den Gehalt um etwa 90 %. Bleiben noch 0,125 g – etwa zwei Salzkörner. Petersilie wiederum enthält Apiol. In einem halben Bund sind etwa 175 mg drin. Apiol kann in hoher Dosis Frühgeburten und Leberschäden auslösen. Bis in die 1960er gab es Apiol-haltige Präparate – zur Einleitung heimlicher Abtreibungen, mit oft tödlichem Ausgang für die Schwangere. Und sollte es zu den Petersilienkartoffeln noch Kräuterquark mit Kresse, Dill oder Schnittlauch geben, dann kommen weitere potenziell giftige Stoffe hinzu: Glucosinolate, Myristicin, Allicin – allesamt in der Natur vorkommende Substanzen mit pflanzenschutzähnlicher Wirkung.

 

Es gibt tausende solcher Beispiele – aber kein Kochbuch und keine Redaktion dieser Welt warnt davor. Warum? Weil diese Substanzen in normalen Mengen keine Gefahr darstellen. Wechselwirkungen gibt es nur theoretisch – nicht praktisch. Unser Körper ist evolutionär seit Jahrhunderten an solche Mischungen gewöhnt.

 

Warum also warnt Ökotest permanent vor minimalen Rückständen von Pflanzenschutzmittelrückständen, nicht aber auch vor natürlichen, potentiell aber giftigen Stoffen in Kartoffeln, Petersilie und Kräutern? Die Antwort ist einfach: Nur das Erste verkauft sich gut als Aufreger und dient damit der Eigen-PR. Eine wissenschaftliche Begründung für diese selektive Empörung gibt es nicht. Sie ist wirtschaftlich aber umso einträglicher, denn viele große Leitmedien bieten dem Magazin permanent eine Plattform für seinen unwissenschaftlichen Alarmismus.

 

Dass Medien derartige Informationen unkritisch und ungeprüft weitertragen, halte ich für hochproblematisch. Denn wer es ernst nimmt mit dem journalistischen Anspruch, den Antje Sirleschtov formuliert hat, muss Informationen hinterfragen und einordnen. Nur so entsteht Vertrauen in Berichterstattung, und nur so gibt es weiterhin einen klaren Unterschied zwischen Aufklärung und Alarmismus.

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Autor:
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Christian Maertin
Head of Corporate Communications
5 Min. Lesedauer